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Über Kronsnest

Die Fragen nach dem Glück

Was treibt die Menschen an? Was lässt sie glücklich sein? Und wie überstehen sie Phasen von Unglück und Schmerz? Immer wieder beobachte ich mich und die Menschen um mich herum und komme auf solche Fragen zurück, auf die Fragen nach dem Glück und seiner Zerbrechlichkeit.

Natürlich schlägt sich diese Neigung auch auf meine Arbeit nieder. In meinen Reportagen stelle ich oft Menschen mit besonderen Lebenswegen, Schicksalen oder Leidenschaften vor. Ich versuche zu verstehen, was sie traurig macht und was sie antreibt, warum jemand als Einsiedler im Wald lebt oder seine gesamte Existenz dem Erhalt alter Apfelsorten widmet, als ob es nichts anderes gäbe auf dieser Welt. Ich versuche diese Menschen zu verstehen und verständlich zu machen.

Im Roman KRONSNEST ist es ähnlich. Ich habe Charaktere entworfen, sie ins Leben entlassen und dann beobachtet, wie sie sich schlagen. Hannes Thormählen, die Hauptfigur, macht längst nicht alles richtig und ist auch kein durch und durch guter Mensch, aber er ist ein Kämpfer, verletzlich und zart und mit großem Willen ausgestattet. Er lehnt sich gegen den Vater und gegen brutale Gleichaltrige auf, setzt alles daran, die Liebe eines schillernden Mädchens zu gewinnen, und sucht beharrlich nach einem Platz im Leben, der zu ihm passt, obwohl er sich manchmal am Ende glaubt. Eine solche Beharrlichkeit rührt mich.

Für die Figuren im Roman gilt das Gleiche wie für uns. Sie haben nur ein einziges kleines Leben, wollen möglichst glücklich werden und müssen doch immer wieder Trauriges verwinden oder mit ihm leben lernen, der eine mehr, der andere weniger. Manchmal hätte ich ihnen beim Schreiben gern zugerufen, sie sollten die Hoffnung nicht aufgeben oder besser nach rechts als nach links gehen, aber manchmal habe ich einfach nur ratlos vor ihrem Dilemma gestanden, obwohl ich es ja war, der sie dort gerade erst hineingestoßen hatte.

Bei mir selbst hat es also funktioniert. Mir waren die Figuren verständlich, ich habe Anteil an ihrem Glück und Unglück genommen und war gespannt, wie es mit ihnen weitergeht, als wäre ich ein Leser. Jetzt muss es beim echten Leser noch genauso sein.

Kein Heimatroman

​KRONSNEST ist kein Heimatroman, jedenfalls keiner, der die Heimat feiert. Warum also ein Roman ausgerechnet aus der Gegend, in der ich mich am stärksten heimisch fühle? Bestimmt nicht aus dem praktischen Grund, dass man, wie ich gelesen habe, über das schreiben sollte, womit man sich auskennt. Viel eher hat es damit zu tun, dass ich in der Heimat die engste Verbindung zu meiner Umgebung habe, die stärksten Gefühle spüre, unterfüttert von ungezählten Erlebnissen. Natürlich könnte ich auch woanders leben und schreiben, ich träume sogar oft davon. Sizilien wäre der erste Kandidat. Nicht nur im Urlaub stelle ich mir vor, dorthin umzuziehen und langsam über die Jahre in ein Dorf, in eine Stadt hineinzuwachsen. Aber noch viel lieber wäre ich dort nicht der heimisch werdende Deutsche, sondern ein Sizilianer. Woher aber kriege ich eine sizilianische Ehefrau, ohne meine zu verlassen, und woher eine sizilianische Kindheit und sizilianischen Humor, der mir so anders scheint als im Rest Italiens. Vielleicht werde ich irgendwann Romane woanders spielen lassen, aber im Augenblick scheint mir mein Zuhause der einzig richtige Ort.

KRONSNEST ist nicht einfach nur in der Nähe meines Wohnorts angesiedelt, es werden sogar viele reale Orte und typische Namen benannt. Durch solch direkte Bezüge fällt es mir leichter, im Roman eine Wirklichkeit entstehen zu lassen, die konkret ist, nicht nebulös, die es mit der Realität aufnehmen kann und zugleich eine Bedeutung hat, mit einem Gefühl verbunden ist. Häufige Wetterlagen, typische Tätigkeiten der Menschen, sogar banale Orte wie ein morscher Steg oder eine schnurgerade Pappelallee haben ihren positiven oder negativen Wert für den, der sie kennt. Im besten Fall ist das beim Lesen eines solchen Romans zu spüren, und zwar ohne dass dafür irgendwelche symbolischen Überhöhungen nötig wären.

Was zeichnet die Gegend von KRONSNEST aus? Was mag ich besonders an ihr? Vor allem die Größe des Raums um mich herum, am Boden, wo die Besiedlung sich sehr in Grenzen hält und keine Hügel den Blick begrenzen, aber auch am Himmel. Dort findet, wie überall in Norddeutschland, das Besondere statt. Immer neue Farben und Formen und Stimmungen, so flüchtig wie sehenswert. Der reinste Sehnsuchtsraum. Hinzu kommt in der Elbmarsch das Wasser. Das winzige Dörfchen Kronsnest liegt an der Krückau, einem Nebenfluss der Elbe. Die Nordsee ist zwar noch einige Kilometer entfernt, aber sie ist zu spüren, vor allem durch die Gezeiten und die Frachtschiffe, die die Elbmarsch auf dem Weg nach Hamburg passieren müssen.

Über die Menschen in dieser Gegend ließe sich eine Menge sagen, müsste man nicht ständig Angst vor Klischees und groben Kategorien haben. Ja, die Leute hier sind manchmal wie in der Werbung für Flensburger Pilsener, auch was die Zahl der gesprochenen Worte und den Humor angeht, vor allem aber sind sie überwältigend tolerant und freundlich. Wer neu von sonst woher dazukommt, wird herzlich aufgenommen, egal ob er bayerisch oder plattdeutsch spricht, ob er einen dicken Ring in der Nase hat oder aussieht wie die meisten. Wichtig ist nur, wie er sich verhält. Ist er arrogant oder egoistisch, geht man bald nur noch grüßend an ihm vorbei, ist er nett und hilfsbereit, wird er schnell ein Teil des Ganzen. Das zu sein, ist mir wichtig. Deshalb bin ich auch, wie die meisten Männer meiner Gemeinde, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und freue mich, dass ich von Nachbarn gefragt werde, wenn sie Hilfe brauchen.

Vorliebe für Zeitgeschichte

Die geschichtlichen Besonderheiten der Region Holstein sind interessant, aber nicht der einzige Grund, warum ich KRONSNEST in den späten 20er Jahren angesiedelt habe. Die Zeit der Weimarer Republik und besonders des 3. Reichs fesselt mich schon sehr lange, vielleicht weil es Jahre extremer Gegensätze und schwer verständlicher Verhaltensweisen waren. Schon in meinen ersten Zeitungsreportagen versuchte ich, Bilder davon zu zeichnen, wie die Menschen damals gedacht und gefühlt haben. Ich besuchte Opfer und Täter, Mitläufer und Widerständler und kreiste immer wieder um die gleichen Fragen: Was hatte sie so und nicht anders handeln lassen? Wie haben sie sich selbst und ihre Umwelt erlebt? Wie haben sie mit Schmerzen und Trauer weitergelebt? Welche Gründe gab es dafür, dass die Menschen so unterschiedlich agiert haben? Wieso konnten freundliche Menschen zugleich menschenverachtende Zyniker oder sogar Bestien sein? Heute denke ich, dass all diese sehr unterschiedlichen Fragen ein und denselben Hintergrund haben. Ich wollte herausfinden, was den Menschen zu dem macht, der er ist, nicht nur damals, auch heute. Und vielleicht wollte ich auch etwas darüber erfahren, warum ich bin, wie ich bin, und darüber, wie ich sonst noch sein könnte bei anderen Rahmenbedingungen.

Auf den Roman KRONSNEST habe ich mich in der gleichen Weise wie auf meine journalistischen Arbeiten vorbereitet. Ich recherchierte im Internet, in Archiven, besorgte mir Fachbücher und befragte die Nachkommen von Zeitzeugen. Dabei ging es häufig nicht nur um politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge, sondern vielfach auch um den Alltag und die Arbeit auf den Höfen. Hierüber einigermaßen Bescheid zu wissen, war natürlich eine Voraussetzung fürs Schreiben.

Woher nimmst du die Figuren ...

„Woher nimmst du die Figuren, woher die vielen Dinge, die im Buch geschehen? Und wie viel steckt von dir selbst in dem Ganzen?“ Solche Fragen werden mir manchmal gestellt. Ich versuche dann natürlich, Antworten zu finden, ehrliche und aussagekräftige, aber es ist oft schwierig. Das könnte daran liegen, dass sich in dem Buch alles Mögliche vermischt: Dinge, die ich gelesen oder erzählt bekommen habe, manchmal vor so langer Zeit, dass ich die Quellen kaum noch benennen kann, Dinge, bei denen ich mir nur vorgestellt habe, dass sie irgendwann einmal jemandem widerfahren sind, und meine persönlichen Erlebnisse. Das ist vermutlich bei den meisten Autoren so, ganz gleich, welche Art von Romanen sie schreiben, außer vielleicht bei jemandem Karl Ove Knausgård, der bekanntlich ein Projekt daraus gemacht hat, ausschließlich das eigene Leben zu beschreiben.

Bei mir ist es anders. Ich bin nicht wie meine Hauptfigur Hannes, ich hatte einen ganz anderen Vater und ganz andere Erlebnisse als Jugendlicher. Aber seine Gefühle und Gedanken – das könnte man sagen – seine Gefühle, die kenne ich, die habe ich selber gehabt. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann.“

Auszubreiten, was aus meinem eigenen Leben stammt, und es einer Leserschaft zu präsentieren, wäre mir unangenehm. Aber von einem realen Vorbild möchte ich doch erzählen, weil es einer Frau ein kleines Denkmal setzt, die vielleicht schon nicht mehr am Leben ist: Frau Peters, meiner Lehrerin in der Dorfschule von Esenshamm.

„Ich möchte euch was vorlesen“, sagte sie kurz vor Schulschluss an einem Herbsttag, „ab jetzt jeden Tag die letzte Viertelstunde.“ Und dann fing sie an: „Es war in der Zeit zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag. Krabat, ein Junge von vierzehn Jahren damals, hatte sich …“

Erstaunlich schnell war es ruhig in der Klasse, daran meine ich mich noch zu erinnern. Frau Peters las bis zum Gong, klappte das Buch zu, ganz gleich, wo sie gerade war, und räumte ihre Sachen zusammen. Die Klassenkameraden standen auf, Stühle knarrten, Taschen fielen um, mein Banknachbar Georg, mein einziger Freund, stieß mich mit dem Ellbogen an, ich glaube mehrmals, weil ich immer noch reglos dasaß.

Von Tag zu Tag wurde es schlimmer, ich war komplett abgetaucht in der Geschichte und konnte es, wenn der Gong kam, kaum fassen, dass ich jetzt wieder einen Tag warten musste, bis es weiterging. Darauf, dass es diese Geschichte auch außerhalb der Schule gab und ich sie mir also besorgen konnte, kam ich nicht. Irgendwann bemerkte Frau Peters, dass ich sie wie ein Jünger den verstummten Propheten anstarrte, und lächelte, bis ich meinen Blick abwandte. Das wenigstens sagt mir meine Erinnerung.

In „Kronsnest“ erlebt Hannes etwas Ähnliches mit der „Schatzinsel“, die Herr Govinski, der neue Lehrer, vorliest: „In stürmischen Nächten, wenn der Wind an den vier Ecken des Hauses rüttelte, …“

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